Haftreibungszahlen für Schiene & Straße

Diese Seite beschäftigt sich mit den Reibungs­koeffizienten für ein Stahl­rad auf einer Stahl­schiene (Schienen­fahrzeuge) sowie für einen Gummi­reifen auf Asphalt (Straßen­fahrzeuge) bei verschiedenen Bedin­gungen.


Zudem findet man Informationen, wie sich die Haft­reibungs­zahl mit zuneh­mender Geschwin­dig­keit (Curtius-Kniffler Kurve) bzw. bei einer Kurven­fahrt (Kammscher Kreis) ändert. Am Anfang wird auch kurz auf technische Ein­richtungen in Straßen­fahrzeugen wie ABS und ASR einge­gangen.

Inhaltsverzeichnis

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Haft- und Gleit­reibungs­zahlen – Ein­führung

Bei den in den Tabellen angegebenen Werten handelt es sich immer nur um Richt­werte, da die Haft­reibungs­zahl µH und die Gleit­reibungs­zahl µG neben der Material­paarung auch von der Geschwindig­keit, der Werkstoff­oberfläche, der Normal­kraft, der Aufstands­fläche, der Luft­feuchte und der Temperatur abhängen.


Es gilt fast immer, dass die Gleit­reibungs­zahl etwas kleiner als die Haft­reibungs­zahl ist. Deshalb gibt es bei Schienen­fahr­zeugen den sogenannten Gleit­schutz. Er bewirkt, dass die Räder beim Bremsen nicht blockieren und dann auf der Schiene entlang gleiten. Mit dem Gleit­schutz kann somit der Brems­weg verkürzt werden, außerdem verhindert er soge­nannte Flach­stellen auf den Rädern. Der Gleit­schutz funktioniert ähnlich wie das ABS (Anti­blockier­system) beim Auto. Bei Kraftfahr­zeugen sorgt das ABS zudem dafür, dass das Fahr­zeug beschränkt lenk­fähig bleibt.


Weiters sind die meisten Schienen­fahr­zeuge mit einem Schleuder­schutz ausgestattet. Als Schleudern bezeichnet man das Durch­drehen der Räder bei zu schnellem Beschleunigen, das heißt, die Antriebs­kräfte übersteigen die Haft­reibungs­kraft. Beim Auto wird dieses Problem mit Hilfe der sogenannten Antriebs­schlupf­regelung (ASR) gelöst.


Die Haftreibungs­zahlen spielen bei fast allen meinen Rechnern eine wichtige Rolle, weshalb ich auch diese Unter­seite erstellt habe:

Recht weit verbreitete Irrtümer

  • Die Haftreibungs­zahl ist stets kleiner gleich 1: Zum Beispiel haben Silikon­kaut­schuk oder besonders weiche Gummi­reifen z. B. für die Formel 1 einen Haft­reibungs­beiwert größer als eins!
  • Schwere Fahr­zeuge wie LKW haben einen wesentlich längeren Brems­weg als leichtere: Die Haft­reibungs­zahl hängt nur relativ wenig von der Rad­last ab, daher bestimmen in erster Linie die Leistungs­fähigkeit der Bremsen und die Gummi­mischung der Reifen den Anhalte­weg. LKW besitzen aus Gründen der Wirt­schaft­lichkeit Reifen aus einem härteren Gummi als PKW, was eine wesentlich höhere Lebens­dauer der Reifen, dafür aber auch ein bisschen geringere Haft­reibungs­zahlen zur Folge hat. Bei guten Bremsen wird ein LKW demnach einen etwas längeren Brems­weg als ein PKW haben. Im Gegen­satz dazu hat ein Zug natürlich einen wesentlich größeren Brems­weg als ein PKW, da der Haft­reibungs­beiwert zwischen Eisen­bahn­rad und Schiene viel kleiner als zwischen Gummi­reifen und Asphalt ist. Durch die Ver­wendung einer Magnet­schienen­bremse bzw. durch Sand­streuung (“Sanden”) bei ungünstiger Witterung kann der Brems­weg jedoch mit­unter erheblich ver­kürzt werden.

Haftreibungszahlen für ein Stahlrad auf einer Stahlschiene

Die folgende Tabelle gibt die Haft­reibungs­zahlen µH – auch Haft­reibungs­koeffizient oder Haft­reibungs­bei­wert genannt – für ein Stahlrad auf einer Stahl­schiene bei verschiedenen Schienen­zuständen an. Aus dieser Tabelle wird ersichtlich, dass die Haft­reibungs­zahlen je nach Schienen­zustand stark streuen können.


Bei nassen Schienen ist der Haft­reibungs­koeffizient um ca. 30 % kleiner als auf trockenen Gleisen. Reicht die vor­handene Haft­reibung nicht aus, kann bei Bedarf gesandet werden. Es gilt zudem, dass der Haft­reibungs­beiwert µH

  • mit größerem Rad­durch­messer zunimmt.
  • mit steigender Geschwindig­keit abnimmt – siehe dazu auch das folgende Kapitel.


Zusätzlich ist zu beachten, dass vor allem in engen Kurven auf­grund des verstärkt auf­tretenden Schlupfes die über­trag­bare Kraft in Längs­richtung kleiner wird.

Tabelle Haftreibungszahlen Stahl auf Stahl (Eisenbahn)

Schienenzustand Haftreibungszahl µH
Laborbedingungen (extrem sauber, Vakuum) bis 0.8 *
trocken 0.20 – 0.35 (bis 0.45 beim Anfahren)
nass 0.15 – 0.25 (bis 0.30 beim Anfahren)
feucht (Nebel, hohe Luftfeuchtigkeit, beginnender Regen) > 0.10 **
sehr schlechte Bedingungen (z. B. Ölfilm, Laub, Staub, Eis) 0.05 – 0.10 **
Schienenkopfschmierung mit HeadLub® (Firma Igralub) 0.15 – 0.20 (0.20 = Herstellerangabe)
Betriebssituation  
Befahren von Rampen (Semmering, Lok 1144) 0.25 (Boarische Wikipedia)
Bremsberechnung 0.1
Bremsen im Nahverkehr 0.15
Alle Werte gelten für den Haftreibungskoeffizienten Stahl auf Stahl!

* Quelle: Roloff/Matek Maschinen­elementeo

** unter Umständen ist ein Sanden erforderlich


Achtung:

Bei Verwendung von Rädern aus Guss­eisen müssen die Haft­reibungs­zahlen in etwa halbiert werden, da das im Guss­eisen enthaltene Graphit als Schmier­mittel wirkt!

Versuchsaufbau zur Ermittlung der Haftreibungszahl

Nachfolgend ein Bild meiner Garten­bahn 5 Zoll auf einer 35 % (!) steilen Ver­suchs­strecke, ein vorsichtiges An­fahren war gerade noch möglich. Das bedingt eine Haft­reibungs­zahl von mindestens 0.35.

Durch die Schmierung der Kurven befand sich trotz inten­siven Regens noch etwas Igralub auf der Schienen­oberfläche, daher konnte ich den maximalen Haft­reibungs­beiwert nicht ermitteln.
 

Lokomotive 1144 meiner Gartenbahn 5 Zoll in einer 35 % (!) Steigung, Anfahren gerade noch möglich (Versuchsaufbau). Dafür wird ein Haftreibungsbeiwert von etwas größer als 0.35 benötigt.

Welche Steigung kann ein Zug überwinden?

Wie obiger Versuch zeigt, könnten Fahr­zeuge von reinen Adhäsions­bahnen, deren Achsen alle ange­trieben sind, zumin­dest 35 % steile Strecken be­fahren. Aller­dings sind diese Werte nur unter guten Be­dingungen zu erreichen.


In der Praxis wurden Adhäsions­bahnen mit folgenden Steigungen ausge­führt:

  • Straßenbahn Lissabon: 13.5 % (steilste Adhä­sions­bahn der Welt)
  • Pöstlingberg­bahn Linz: 11.6 %
  • Erzbergbahn: 7.1 %


Zahnradbahnen und Stand­seil­bahnen können noch wesent­lich steiler ge­baut werden:

  • Schafbergbahn: 25.5 % (klassische Zahn­rad­bahn)
  • Pilatusbahn: 48 % (spezielle Zahn­rad­bahn)
  • Standseil­bahn Schwyz – Stoos: 110 %


Quelle Steigung: Wikipedia

Geschwindigkeitsab­hängige Haft­reibungs­zahl nach Curtius-Kniffler

Wie schon vorhin erwähnt, nimmt der Haft­reibungs­bei­wert mit steigender Geschwin­digkeit ab. Für die Aus­legung von An­trieben wird daher die folgende Formel ver­wendet, mit der die Haft­reibungs­zahl in Abhängig­keit von der Geschwin­dig­keit be­rechnet werden kann:

$$µ_H=\frac{7.5}{V+44}+0.161$$

 

µH  
Haftreibungskoeffizient
V Geschwindigkeit in km/h

 

Das folgende Diagramm zeigt den Haft­reibungs­beiwert in Abhängigkeit von der Geschwin­dig­keit, berechnet mit der Formel von Curtius-Kniffler. Zusätzlich sind die obere und die untere Grenze für alle Schienen­zustände einge­zeichnet. Im Extrem­fall – wie zum Beispiel bei öligen oder mit nassem Laub bedeckten Schienen – kann µH jedoch auch Werte bis zu 0.05 annehmen.

Bei modernen Trieb­fahr­zeugen (Einzel­achs­antrieb, keine Zugkraft­sprünge beim An­fahren) liegen die erreich­baren Haft­reibungs­zahlen etwas über der Curtius-Kniffler Kurve.
 

Haftreibungszahl µ.H in Abhängigkeit von der Geschwindigkeit V in km/h (Curtius-Kniffler Diagramm)
Haftreibungszahl µ.H in Abhängigkeit von der Geschwindigkeit V in km/h (Curtius-Kniffler Diagramm)

Beispiele für Haftreibungs­bei­werte beim An­fahren

Den zum Anfahren erforderlichen Haft­reibungs­koeffizienten berechnet man wie folgt:

$$µ_H = \frac{Anfahr­zug­kraft}{g⋅Lokmasse}$$

 

Lokomotive (ÖBB)
Anfahrzugkraft
in kN
Masse
in t
Erforderliche Haft-
reibungszahl µH
 1293 (Vectron) 340 90 0.39
 1016 bzw.1116 (Taurus) 300 86 0.36
 1042 bzw. 1142 260 83.5 0.32
 1044 bzw. 1144 327 84 0.40
 2016 (Herkules) 235 80 0.30
 2043 196 68 0.29

Beispiele für Haft­reibungs­zahlen beim Be­fahren von Rampen

Die in der Tabelle angeführten Haftreibungs­beiwerte µH wurden mit meinem Zugkraft­rechner bestimmt und gelten für die Semmering­bahn unter den folgenden Voraus­setzungen:

  • Die Steigung beträgt 25 ‰.
  • Die Geschwindigkeit wird mit konstant 50 km/h angenommen.
  • Die Bögen haben Kurven­radien von nur 190 m, der Krüm­mungs­widerstand würde hier etwa 2 ‰ betragen. Da in den Bögen die Steigung jedoch geringer ist, wird dieser Wider­stand nicht berücksichtigt.

 

Lokomotive
(ÖBB)
Maximale Anhängelast
laut Belastungstafel
Benötigte Haft-
reibungszahl µH
Boarische Wikipedia **
 1116 (Taurus) 650 t 0.23 ?
 1144 600 t (650 t *) 0.22 – 0.23 0.25
 1142 500 t * 0.19 0.22

*  Quelle: Georg Schwach. (1981). Schnell­züge über­winden Gebirge. Wien: Verlag Josef Otto Slezak.

** Die Reibungszahlen aus der bayrischen Wikipedia bein­halten etwas Reserven zum Anfahren.


Kann unter ungünstigen Witterungs­bedingungen die erforderliche Haft­reibungs­zahl nicht erreicht werden, muss man sanden.

Haftreibungszahlen für einen KFZ-Reifen auf fester Fahr­bahn

In der nächsten Tabelle findet man die Haft­reibungs­zahlen für einen Gummi­reifen bei ver­schiedenen Straßen­zuständen.

Folgendes ist bei der Aus­wahl des richtigen Wertes zu beachten:

  • Bei einer Reibung zwischen Gummi und Straßen­oberfläche tritt immer auch eine Ver­zahnung auf – abhängig vor allem von der Aufstands­fläche, der Normal­kraft und der Temperatur – daher handelt es sich hier bei näherer Be­trachtung eigentlich um keine Coulombsche Reibung.
  • Die Werte variieren je nach Straßen­zustand: bröckelnder Asphalt, Uneben­heiten (führen zu einem Ent­lasten der Räder), Boden­markierungen, eventuelle Ver­schmutzungen durch Staub oder Öl.
  • Der Haft­reibungs­koeffizient hängt neben dem Fahr­bahn­zustand auch von der verwendeten Gummi­mischung ab. Weiche Reifen haben generell eine bessere Haftung, dafür besitzen sie einen größeren Roll­wider­stand und nützen sich schneller ab. Das gilt zum Beispiel auch für Reifen, die im Motor­sport verwendet werden: sie erreichen Werte größer 1.5, zudem kann durch verschiedene Maß­nahmen der Anpress­druck um ein Viel­faches gesteigert werden.
  • Bei Kopf­stein­pflaster ist die Haftung stets etwas kleiner als auf Beton bzw. Asphalt, das heißt, man muss in der Tabelle die kleineren Werte verwenden.

 

Straßenzustand Haftreibungszahl µH
trocken (allgemein) 0.7 – 1 (Im Motorsport sind Werte über 1.5 möglich, zudem wird
durch diverse Maß­nahmen ein höherer Anpress­druck erreicht.)
trocken (PKW) mindestens 0.8
trocken (LKW) mindestens 0.7 (etwas geringere Werte als beim PKW zugunsten höherer Laufleistung)
nass, aber kein Aquaplaning 0.4 – 0.6
nasses Laub, Schnee 0.2 – 0.3
bei Eis ~ 0.1
Aquaplaning << 0.1 – Lenken bzw. Bremsen nur mehr sehr eingeschränkt möglich

 

Wie aus der oberen Tabelle ersichtlich ist, wird der Haft­reibungs­beiwert auf einer nassen Straße um rund 40 % kleiner. Bei einer Eisfahr­bahn beträgt die Haftung nur mehr rund ein Zehntel des Wertes einer trockenen Fahr­bahn!

Ob Aquaplaning auftritt, hängt haupt­sächlich von der Fahrge­schwindigkeit, der Profil­tiefe und der Breite des Reifens und der Wasser­tiefe auf der Fahr­bahn ab.

Zur Verfügung stehender Haft­reibungs­koeffizient in Kurven beim Bremsen – Kamm­scher Kreis

Wenn man mit einem Fahr­zeug in eine Kurve fährt, kann man weniger stark Bremsen bzw. Beschleunigen als in einem geraden Straßen­abschnitt. Dieser Umstand wird anhand des nächsten Bildes ersichtlich, das den soge­nannten Kammschen Kreis zeigt.

Zu beachten ist jedoch, dass der Kammsche Kreis nur ein idealisiertes Modell des vor­liegenden Problems darstellt: Ein Reifen kann beispiels­weise in Längs­richtung größere Kräfte wie in Quer­richtung über­tragen.

Haftreibungszahl in Kurven beim Bremsen bzw. Beschleunigen (Kammscher Kreis)
Haftreibungszahl in Kurven beim Bremsen bzw. Beschleunigen (Kammscher Kreis)


In der Skizze sind zwei Bei­spiele eingezeichnet:

  • Variante 1 (blau): Geringe Seiten­beschleu­nigung aufgrund einer weiten Kurve oder einer langsamen Geschwin­dig­keit – es steht folglich viel Kraft für das Bremsen bzw. Beschleunigen zur Ver­fügung.
  • Variante 2 (grün): Hohe Seitenbe­schleu­nigung wegen einer engen Kurve oder einer großen Geschwin­dig­keit – für ein Ver­zögern bzw. Beschleunigen bleibt nur mehr wenig Kraft übrig.


Im Extrem­fall kann eine der beiden Komponenten auch null werden: Das bedeutet, dass man nur mehr geradeaus fahren bzw. über­haupt nicht mehr bremsen kann.

Der Radius des Kreises hängt vom Straßen­zustand und von der Gummi­mischung des Auto­reifens ab; bei einer trockenen Fahr­bahn ist der Radius zum Beispiel viel größer als auf einer Schnee­fahrbahn.

Größer als µH mal Radauf­stands­kraft – diese Kraft entspricht genau dem Radius des Kammschen Kreises – kann die resultierende Kraft R, die zwischen Pneu­reifen und Straße über­tragen werden muss, niemals werden. Wird die Kraft über­schritten, kommt es zu folgenden Erscheinungen:

  • Schieben oder Schleudern des Fahr­zeuges in Kurven.
  • Durch­drehen der Antriebs­räder bei zu schnellem Beschleunigen.
  • Blockieren der Räder bei zu starkem Bremsen.


Aufgrund des Lehrsatz des Pythagoras ergibt sich der folgende Zusammen­hang:

$$(µ_H·Radaufstandskraft)^2=R^2=(F_{Seitenbeschleunigung}^2+(F_{Bremsen})^2$$


Anders angeschrieben:

$$µ_H^2=µ_q^2+µ_a^2$$

 

µH Von den Fahrbahnbedingungen abhängige Haftreibungszahl zwischen Rad und Straße.
µq Haftreibungszahl, die für die Kurvenfahrt aufgrund der Seitenbeschleunigung benötigt wird.
µa Haftreibungszahl, die für das Bremsen bzw. Beschleunigen gebraucht wird.

 

Durch Umformen obiger Gleichung erhält man somit:

$$µ_q=\sqrt {µ_H^2-µ_a^2}\qquad µ_a=\sqrt {µ_H^2-µ_q^2}$$


Den Haftreibungskoeffizienten µH entnimmt man der oberen Tabelle. Mit dem Brems­weg­rechner wird µa ermittelt, µq bekommt man mit Hilfe des Rechners zur Bestimmung der Geschwin­dig­keit in Kurven.


Beispiel:

Es seien µH 0.8 und µq 0.6. Somit bleibt für das Bremsen nur mehr ein µa von 0.53 übrig!



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